Sie ist aus Stein und steht hier schon ziemlich lange. Die Menschen erzählen sich Mythen und Sagen über sie. Schreiben Gedichte und besingen sie in Liedern. Bezeichnen sie als Herz des Bregenzerwaldes. Kranzförmig haben sie sich um sie herum in Dörfern angesiedelt. Sie streiten darüber, welche ihre schönere Seite ist. Alle kennen ihren Namen. Und ihre eigenartige Form. Aus der Ferne und aus der Luft. Zu jeder Jahreszeit. In jeder Epoche. Menschen werden geboren und sterben. Sie bleibt bestehen. Und darum baten wir um Audienz bei ihr.
Das hat sie uns gesagt: Auf der Nordseite bin ich ein senkrechter Felsen, unmittelbar, dominant, geheimnisvoll und bedrohlich, voller Höhlen, Lawinen, Schatten und Geröll. Ich beherrsche das Tal, bin eine urgewaltige Mauer, ein Patriarch. Respekteinflößend. Ein männliches Symbol mit breiten Schultern, einer starken Stirn und einer 150 Meter hohen, alleinstehenden Steinsäule, „Geisterkirche“, „Hexenturm“ oder „Wirmsul“ genannt – von der Säule des Riesen Wirm gibt es unzählige Legenden. Und einen Eingang zur Unterwelt.
Dort sitzen eine Menge Geister fest. Wie die tote Schwiegermutter von Johann Michael Mäser aus Dornbirn-Haselstauden. Als „Aufsitzer-Geist“ sprang sie den Menschen von Buckel zu Buckel und wurde immer schwerer, bis sie zusammenbrachen. Die verzweifelte, vom Spuk geplagte Familie wandte sich an volksmagische Spezialisten. Keiner war besser als der Bezauer Kapuzinerpater Jaköble. Er verbannte die Untote in die Wirmsul. Doch nicht die ganze Verwandtschaft war damit einverstanden, dass die Schwiegermutter dort für den Rest der Ewigkeit festhocken sollte. Der Fall landete am 4. August 1767 vor Gericht und in den Akten.
Berge galten lange als Hort der Toten und als Reich der Götter. Hexen flogen auf den Rücken von Wölfen, tanzten auf Hanfstängeln und führten Schlachten, bis sie geheilt waren. Ihr Tanz auf dem Berg entschied über das Wohl des nächsten Jahres. Ein berühmter Gerichtspsychiater, der in Mellau aufgewachsen ist, liebt meine schroffe Seite und findet mich überhaupt unglaublich schön. Mit zehn Jahren musste er mich verlassen. Der Abschied fiel ihm schwer. Um das Heimweh zu ertragen, holte er sich einen Stein von mir, der ihn durch seine Studienzeit begleitete. Ich präge die Menschen. Ihre Stimmung ist Spiegel meiner Wandlungen im Wetter, den Jahreszeiten, in der Frage, ob die Sommerlawine schon abgegangen ist – in einem Lawinenkegel blieb der Schnee oft bis in den Sommer liegen. Dann packten Mütter Geheimrezepte aus und gossen flüssige Schokolade in Formen, die die Kinder in die Schneehöhlen brachten, wo die „Schneegotele“ fest und zu unvergesslichen geschmacklichen Erinnerungen wurden. Dunkle Schatten, grandiose Sonnenuntergänge, Nebelfetzen, die sich teilen und über die Hänge jagen. Im Widerstreit der Natur wechseln die Gefühle der Menschen um mich.
In Au lebt ein Quellensucher, den sie in Nepal für einen Wassergott halten, weil er dort Brunnen gräbt. Als Kind zog er Anfang Juni aufs Vorsäß und die Argenalp und wieder zurück. Bis die Heuvorräte zu Ende waren, lebte er in einer Hütte, manchmal bis Weihnachten oder Dreikönig. Von dort ging er zur Schule. Wenn der Schnee hoch lag, kam der Onkel mit einem Ross, um einen Weg zu spuren. War am Nachmittag Unterricht, aßen die Kinder in Kosthäusern zu Mittag. Meine Wandlungen wussten sie immer zu deuten. Wenn ich einen Hut aus Wolken trage, rechnen sie mit einer Woche Regen. Wenn das Licht der Sonne auf der mir gegenüberliegenden, steilen Halde gleißt, als würde Wasser herablaufen, gilt das als sicheres Zeichen, das Heu aufzuladen und unters Dach zu stellen. „Von der kommst du nicht los“, sagt der Quellensucher. Er reiste bis zur chinesischen Grenze, sah viele Berge in vielen Ländern, aber keinen fand er so beeindruckend wie mich. „Es ist die Energie, die sie ausstrahlt.“ Auf der Suche nach neuen Quellen ist er manchmal mit dem Helikopter unterwegs. Dann nimmt er Frau und Kinder mit und sie bewundern mich von oben.