Beim Wandern auf der Kanis zum eigenen Atem kommen
Den ersten steilen Anstieg ersparen wir uns und schweben mit der Bergbahn über den Waldgürtel auf die Roßstelle. Dort, im märchenhaften Bergwald, waren in meiner Kindheit noch Rübezahl und nach erster winterlicher Verzuckerung das Christkind zu Hause. Wir wandern hinein, über Wege und Stege, in den Talkessel der Alpe Kanis. So stellt man sich eine Farm in Kanada vor. Wäre das nicht eine grandiose Kulisse für einen Wildwestfilm? Weiter geht es durch Föhren und Bergblumen, vorbei an der Wurzacher Alphütte, die uns jetzt schon mit der Aussicht auf Rast und Stärkung auf dem Rückweg lockt. Nirgendwo klingen die Kuhglocken so sommerlich wie hier, da ist das Klischee von saftigen Alpwiesen und glücklichen Kühen erfüllt. Jetzt fühlen wir uns entspannt, wir lassen Stress und Ärger hinter uns, wir werden frei. Ist das nicht Luft-, Licht- und Farbtherapie in einem? Dann der Anstieg, nicht gefährlich, aber lang und heiß. Nunmehr wäre Kondition gefragt. Da hilft der Gedanke an Menschen, die verzweifelt um ihr Leibgefühl kämpfen, weil sie ihren Körper nicht mehr spüren. Dem schwitzenden, keuchenden Wanderer mit vor Anstrengung gerötetem Kopf und schmerzenden Muskeln ist seine Leiblichkeit durch und durch bewusst, da braucht es keine Therapie. Ob wir nun wollen oder nicht, spüren wir doch endlich wieder das Atmen als intensivste aller Körperfunktionen, können durch das tiefe Luftholen innere Blockaden lösen, und negative Emotionen hinauspusten. Als wir die Höhe erreichen, den Bergkamm der Holenke, stellt sich ein erstes Hochgefühl ein. Schlagartig hat sich die Kulisse geändert, der Blick in die Weite gibt ein Gefühl der Freiheit, ja einer gewissen Erhabenheit – und auch der Sehnsucht. Unten liegen die „Dörfle der Reihe nach“, wie es im Lied heißt. So nah ist der Bodensee, der Panoramablick schweift auf die Tiroler Alpen, über die trotz Gletscherschwund noch weißen Schweizer Berge und weit hinaus ins deutsche Land. Der letzte, nur scheinbar kurze Anstieg ist ein Hund. Er zieht und zieht sich, die Luft wird dünner, manche packen hier den Rucksack aus. Jetzt braucht man Willen und inneren Dialog. Jetzt bauen wir aber auch am meisten Aggressionen ab und steigern die Produktion von Glückshormonen. Am Gipfel sind alle stolz, sie gratulieren sich: passionierte Berggeher, Wandergruppen, ganze Familien und Kinder, die das erste große Bergabenteuer bestanden haben. Einen 2000er – sie werden es ein Leben lang nicht vergessen.