In der Nacht hat es geschneit. Alles ist wieder glatt und clean. Als hätte ein Riese ein frisch gestärktes Laken über die Berge ausgebreitet. Nebel wabert um die Gipfel. Wer wird diesmal die ersten Spuren in den ungewalzten Schnee zeichnen? Schneehasen? Bergdohlen? Westwind bläst Pulver über eine Felskante. Da! Zwischen Himmel und Erde taucht eine neongrüne Gestalt auf: Muss Thomas Dietrich sein. Denn dort, wo sich sonst nur Gämsen hinwagen und den meisten Skifahrenden schon beim Hinschauen schlecht wird, schiebt er am liebsten seine Skispitzen über den Grat. Dann stürzt er sich in anmutigen Kurven eine extrem steile Rinne nach unten.
Früher war Thomas Dietrich einer der wenigen, die so etwas wagten. Bis in die späten Nachmittagsstunden konnte er allein mit Hasen und Bergdohlen Spuren malen. Doch seit ein paar Jahren ist die Wildbahn alles andere als frei. „Das liegt vor allem am Material“, erklärt er. Mit Snowboards und breiten Ski hat jedes Kind im Tiefschnee Spaß. „Früher, als es nur die langen, schmalen Ski gab, fuhren nur die guten Skifahrer abseits der Piste.“ Heute werden in wenigen Stunden ganze Hänge von Skifahrenden umgeackert. Was früher Geländeskifahren hieß, nennt man jetzt Freeriden. Es ist zu einem Trend geworden, der vor allem jenen gefällt, die ihn mitmachen. Ein Halleluja für Plante Snow Sie gleichen einer Religionsgemeinschaft. Ihr Gott ist der Berg, ihre Göttin Frau Holle, ihre Priesterschaft prognostiziert das Wetter und aus ihrer Bibel beten sie auf Englisch. Freerider sprechen von Powder-Alarm (Pulver-Alarm) im Backcountry (Hinterland) mit vollgerockten Ski samt Tip und Tail (vorne und hinten gebogen). Sie analysieren die Lawinengefahrenmuster im Outback und testen ihre Personal Velocity (persönliche Geschwindigkeit). Sie checken permanent das White Risk (weißes Risiko), die Spots (besten Stellen), die Schneehöhen, und sie beobachten, was die anderen auf YouTube oder in ihren Blogs so treiben. Sie studieren das Outfit der anderen und stellen fest: Wer uncool Ski fährt, wirkt mit coolen Klamotten doppelt uncool. Aber wer will und hat, kann dafür so viel Geld ausgeben wie fürs Golfen oder Segeln. Sir Edmund Hillary wäre jedenfalls glücklich gewesen, wenn er bei der Erstbesteigung des Mount Everest die Funktions-Unterwäsche eines Freeriders gehabt hätte. Geschweige denn den Rest der Ausstaffierung wie eine beschlagfreie Brille, handgefertigte Ski, einen Rucksack mit integriertem Rückenprotektor samt Schlauchführung für das Trinksystem und Freeride-Maps mit farbig markierten Off-Pisten.